Eine Ausstellung von Gabriele Senft
NATO-Opfer klagen auf Schadenersatz

Zu den Zielen der NATO-Luftangriffe in der Bundesrepublik Jugoslawien gehörte am 30. Mai 1999 die Zerstörung einer Brücke in der serbischen Kleinstadt Varvarin. Zehn Menschen starben, über 30 wurden verletzt, davon 17 schwer. Die Angehörigen der Opfer und Überlebende haben die Bundesrepublik Deutschland auf Schadenersatz verklagt. Die Kläger und ihre Unterstützer aus der BRD kämpfen nun vor allem um die Finanzierung des Projekts. Allein für die erste Instanz der Klage brauchen sie 193 000 Euro. Sie sammeln Spenden und machen Öffentlichkeitsarbeit. Unterstützt werden sie dabei auch von der Fotografin Gabriele Senft aus Berlin. Sie besuchte die Klägerinnen und Kläger. Ihre Fotoausstellung zeigt das Leben in Varvarin nach dem Unfassbaren. Sie zeigt Stille, die nicht schweigt.

 
unsere zeit - Zeitung der DKP1. Februar 2002
Varvarin - Eine Fotoausstellung von Gabriele Senft begleitet das Projekt "NATO-Opfer klagen auf Schadenersatz"

... Stille, die nicht schweigt

Du stirbst allein, das weißt Du,
lass´ nicht and´re einen Nachruf schreiben;
es wird von Dir, das weißt Du,
niemals mehr als Dein eig´ner Nachruf bleiben.

Sanja Milenkovic hatte dafür keine Zeit mehr. Sie war ja gerade erst dabei herauszufinden, welche Wege sie gehen, welche Furchen sie ziehen sollte. Keine Zeit für den eigenen Nachruf also, der sich aus den hinterlassenen Spuren lesen ließe. Ihre Hoffnungen starben mit ihr im Raketenhagel der Nato-Flugzeuge am 30. Mai 1999 auf der Brücke von Varvarin. Sie war fünfzehn Jahre alt.

Eine Ausstellung - unlängst war sie im Berliner "Haus der Demokratie" zu sehen - der Fotografin Gabriele Senft spricht von der Zeit danach. Von der Zeit der Trauer, des sich Wiederfindens ohne vergessen zu können. In den Bildunterschriften kommen noch einmal die Überlebenden, Schwerverletzten mit bleibenden Schäden zu Wort. Noch einmal wird die Ungeheuerlichkeit des menschenverachtenden Terrorangriffs deutlich.

"Wir sind doch ein Dorf. Es wird nichts passieren." Niemand glaubte an einen Angriff auf Varvarin, kein Militär, ein völlig unwichtiger Flecken, zweihundert Kilometer von der Hauptstadt Belgrad entfern. Es gab Gründe genug, sich sicher zu fühlen. 30. Mai 1999: Warme Maisonne, strahlend blauer Himmel, kirchlicher Umzug zum Pfingstfest, feiertägliche Stimmung, Sonntagsmarkt, weit mehr Menschen im Ort und in der Nähe der Brücke als an anderen Tagen. Die Fotoausstellung zeigt auch den Marktplatz. Der Überfall liegt fast zwei Jahre zurück. Wieder ist Sonntagsmarkt und doch ist nichts so wie zuvor.

"Wir, meine beiden Freundinnen und ich, wollten zum Festumzug in Varvarin. Schon auf dem Heimweg bummelten wir an diesem 30. Mai über die Brücke, als wir lautes Dröhnen von Flugzeugen hörten und nach 5 bis 6 Sekunden erfolgte ein Einschlag. Wir stürzten mit der Brücke ein. Sie war in der Mitte durchgebrochen, wir schwebten einen Moment und fielen hinunter", berichtete Sanjas Freundin Marijana Stojanovic, die schwerverletzt überlebte. "Dieser Moment hat das Kind in mir getötet, ich bin mit einem Schlag eine erwachsene Frau geworden, fühle eine schwere Last und bin mir der Nichtigkeit eines Menschenlebens bewusst geworden. Ich zwinge mich, mich wie ein normaler Menschen zu benehmen, um meine Familie, meinen Bruder vor allem, nicht zu ängstigen."

Die Trauma werden bleiben. Die Gesichter sind gezeichnet. Hinter ungeweinten Tränen verbirgt sich das Blut der Toten und Verletzten. Es wird kein Vergessen geben.

Predrag Milosevic ist jetzt dreißig Jahre alt, lebt mit seinen Eltern und seiner Frau in einem Häuschen in Gornji Katun am Rande von Varvarin. Er wurde verletzt, als er mit anderen nach dem ersten Angriff zu helfen versuchte. "... sein linkes Bein war von der Hüfte an fast abgetrennt, hing nur noch am Innenmuskel. Die verletzte Stelle rauchte, stank und blutete. Man sammelte am Ort Knochensplitter auf und die Chirurgen setzten sie kunstvoll zusammen", so die Berichte. Auch für Predrag, der wie durch ein Wunder überlebte, aber auch nach zahllosen Operationen und Rehabilitationen ständig Schmerz- und Beruhigungsmittel einnehmen muss, ist alles anders: "Ich zwing mich bewusst, ein normales Leben zu führen, aber ich habe Angstträume, vertrage keine Stille. Wir sind neun Jahre verheiratet, nun wird unsere Tochter Anita, geboren, am 13. Mai 2001, unserem Leben einen neuen Sinn geben. Aber es ist noch völlig unklar, wie wir existieren werden."

Verletzt wurden auch das Denken und Fühlen, verletzt wurde die Zukunft, und der Schmerz hat sich als Schleier auf die Augen gelegt, sich unbemerkt in die Gestik eingeschlichen.

Bei Stanislav Momcilo Jevtiv mussten 64 verschiedene Splitter entfernt werden, zwei davon wandern noch im Körper herum und können nicht herausoperiert werden. Wenn er Flugzeuge hört, bekommt er Angstzustände. "Ich begebe mich nicht in psychologische Behandlung, wir können uns hier nicht leisten, verrückt zu sein", sagt er. Er und seine Familie lebten 100 Meter von der Brücke, auf der Stadtseite am Marktgelände. Doch anstelle der Brücke ragt nur noch eine Metallstrebe aus dem Boden. Als Mahnmal gegen Krieg und Terror und als Erinnerung an den 30. Mai 1999.

Die neue Brücke wurde etwas weiter weg errichtet. Ein Denkmal erinnert an die Opfer. Es ist einfach, eine neue Brücke für den Verkehr zu bauen. Für die Brücken des Wegs der Menschen zurück in das Leben, in eine Normalität gibt es keinen Bauplan, für die Verletzungen der Herzen keine Reparatursets.

Die Menschen auf den Bildern von Gabriele Senft wissen dies. Ihre Haltungen, ihre Augen sagen es uns. Und doch, wir können das Leid nur ahnen. So sehr wir uns auch auf die Suche nach Antworten machen, die wir hinter den Blicken in die Kamera vermuten, es ist vergeblich. Sie haben keine Erklärungen, Fragen sind dahinter verborgen, vor allem die Frage: "Warum?" - Auch Frau Zivadinka Jovanovic kann nicht verstehen: "Warum noch ein zweiter Angriff, wenn schon alles zerstört war?"

Prof. Dr. SCI Slobodan Mihalja Kostic, arbeitet als Neurochirurg im Krankenhaus Krusevac. Als am 30. Mai 1999 die 15-jährige Sanja Milenkovic im Krankenhauses eingeliefert wurde, konnte er nur noch ihren Tod feststellen. "... es gibt keine Chance, das, was geschehen ist, wieder gutzumachen. In mir ist kein Hass, nur eine enorme Trauer. Es gibt keinen Grund der Rechtfertigung."

Nach dem Angriff an jenem sonnigen Maitag flossen die Wasser der Morava ruhiger, als wollte der Fluss mit seinem Schweigen die Schreie der Verwundeten und die Klagen der Überlebenden hörbarer machen.

Die Bilder von Gabriele Senft sind von sensibler Stille, die nicht schweigt. Ohne Pathos fordern sie uns eindringlich auf, auch unser Schweigen zu brechen.

Gerald Schwember


Mit ihrer Fotoaustellung unterstützt Gabriele Senft das Projekt "NATO-Kriegsopfer klagen auf Schadenersatz". Die Angehörigen der Opfer und Überlebende von Varvarin haben die Bundesrepublik Deutschland mit Hilfe eines deutschen Projektrates auf Schadenersatz verklagt. Mit dieser Zivilklage wird erstmalig in der Geschichte eine Regierung der BRD in Verantwortung für die Folgen eigener Verbrechen genommen. Die Kosten für die Prozessführung sind aber immens. Für die erste Instanz werden bei einem angesetzten Streitwert von 4,15 Millionen Euro 193 000 Euro benötigt. Die Kläger und ihre Unterstützer brauchen Hilfe durch Spenden und Öffentlichkeitsarbeit. Die Fotoausstellung von Gabriele Senft bestehend aus 18 Tafeln kann dazu ausgeliehen werden. Der Projektrat stellt zudem Öffentlichkeitsmaterialien und nach seinen Möglichkeiten auch Referenten zur Verfügung. Weitere Informationen unter www.nato-tribunal.de, Kontakt: Harald und Cornelia Kampffmeyer: 030/65942908, Hkampffmeyer@aol.com, Gabriele Senft, Salvador-Allende-Straße 81, 12559 Berlin, 030/5101864

Quelle: http://www.unsere-zeit.de/3405/s0301.htm