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Bombenangriff vor Gericht Deutschland soll Serben Schmerzensgeld zahlen

15.10.2003 / POLITIK / MANTEL

Bonn. Stumm stehen Angehörige und Freunde vor dem Bonner Landgericht. In den Händen halten sie Bilder der Toten und rote Nelken. "Meine Tochter Sanja hat es nicht verdient, auf diese Art zu sterben", sagt Zoran Milenkovic. Er ist Bürgermeister des 4000-Einwohner-Städtchen Varvarin, das 180 Kilometer südöstlich von Belgrad liegt. Die 15-Jährige starb kurz vor Ende des Kosovo-Kriegs am 9. Mai 1999 bei einem Luftangriff der Nato. Mit ihr neun andere, siebzehn erlitten zum Teil schwerste Verletzungen. Milenkovic fordert mit 34 Betroffenen von der Bundesrepublik Deutschland 3,5 Millionen Euro Schmerzensgeld. Es ist das erste Mal, dass die Bundesrepublik Deutschland wegen eines Nato-Kriegseinsatzes verklagt wird.

"Wir betreten Neuland"

"Wir betreten Neuland", sagt der Vorsitzende Richter Heinz Sonnenberger. "Eine Zivilkammer beschäftigt sich nicht jeden Tag mit dem Völkerrecht." Bislang ging die geltende Rechtsprechung davon aus, dass nach Kriegen nur zwischen Staaten Entschädigungen geltend gemacht werden können. Doch seitdem auch der Bundesgerichtshof Zweifel an diesem Grundsatz anmeldet, herrscht Unsicherheit unter den Juristen bei der Entscheidungsfindung.

Sonnenberger fällt es nicht leicht, die Ereignisse von damals in Worte zu fassen. Mittags, bei herrlichem Sonnenschein, feiern die Bewohner das Dreifaltigkeitsfest. Menschen ziehen mitten im Ort über die 180 Meter lange und 4,50 breite Brücke zum Markt, an dem 355 Händler ihre Ware anbieten. Kurz nach 13 Uhr tauchen mehrere F-16 Kampfjets auf, bombardieren mit lasergesteuerten 2000-Pfund-Bomben die Brücke über dem Fluss Morava. Menschen eilen den Verletzten zu Hilfe. Die Maschinen drehen eine Schleife und greifen erneut an. "Die Bilder sind an Grausamkeit nicht zu überbieten", sagt Sonnenberger, "mit sterbenden und toten Menschen." Die Opfer sind zerstückelt, verstümmelt, verbrannt.

Die Hamburger Rechtsanwältin Gül Pinar und ihre Kollege, der Berliner Anwalt Ulrich Dost, werfen der Bundesregierung als Mitglied der Nato vor, gegen das 1977 unterzeichnete Genfer Protokoll zum Schutz von Zivilpersonen bei militärischen Auseinandersetzungen verstoßen zu haben. Die Bundesregierung habe die Luftoperationen gebilligt. Dabei sei es juristisch ohne Bedeutung, dass deutschen Flugzeuge an den Angriffen nicht beteiligt gewesen seien. "Der ehemalige Verteidigungsminister Scharping schreibt in seinem Buch ,Wir dürfen nicht wegsehen, dass im Nato-Rat die Bombardierung von Zivilbevölkerung im Kosovo-Krieg ein ständiges Thema gewesen ist", sagt Anwalt Dost. "Die Bundesregierung hätte jeden Tag die Möglichkeit gehabt, ihr Veto einzulegen."

Urteil am 10. Dezember Die Bundesregierung hatte schon im Vorfeld des Verfahrens die Forderungen zurückgewiesen. Es bestehe völkerrechtlich kein Anspruch auf Entschädigung. Die Menschen aus Varvarin wollen sich davon nicht entmutigen lassen. Wie hat es die Mutter der Toten Sanja, Vesna Milenkovic, einmal formuliert: "Man kann nicht jemanden umbringen und dann ist keiner verantwortlich." Das Gericht will seine Entscheidung am 10. Dezember verkünden.

Von Joachim Karpa


Quelle:
http://www.archiv.westfalenpost.de/main_mappe2.asp?file=1&docid=00481028&verid=001

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